Foto: Screenshot einer Google-Bildersuche zu dem Begriff "Familie"
Kaum ein Buch hat mich in den letzten Jahren so angeregt wie „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ (Berlin 2019). Der Berliner (Kultur-)Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt v.a. im vierten Kapitel des Buches („Erschöpfte Selbstverwirklichung: Das spätmoderne Individuum und die Paradoxien seiner Emotionskultur“) eine Perspektive auf gesellschaftliche Mechanismen und Trends, denen alle Menschen ausgesetzt sind, und unter denen viele in Zustände emotionalen Drucks, innerer Verunsicherung und Zerrissenheit, großer Angst-, Schuld- und Schamgefühle geraten.
Als ich das Buch (ein Geschenk von Botho Priebe, ich danke dir!) las, fühlte ich mich in meinem Lebensgefühl wahrgenommen und verstanden, und finde gleichzeitig eine fachliche Legitimation und Fundierung meiner Arbeit, die intuitiv schon zuvor in die gleiche Richtung angelegt war.
Der Hauptfokus meiner Arbeit liegt ja auf der Zusammenarbeit zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern im gesamten Bildungssystem und in der Kinder- und Jugendhilfe, im Weiteren auch auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Analysen von Reckwitz haben mir geholfen, den Druck besser zu verstehen, unter dem moderne Elternschaft für einen erheblichen Teil der Familien steht. Dieses Thema hatte ich schon mit der ersten familienbezogenen Sinus-Milieustudie („Eltern unter Druck“) 10 Jahre zuvor in mein konzeptionelles Denken integriert (vgl. Bartscher u.a. 2010), Denn die emotionalen Belastungen der Eltern wirken sich auf die Kooperation der Erziehungs- und Bildungspartner und noch mehr auf die Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler sehr negativ aus.
Von der Moderne zur Spätmoderne: Kultur der Selbstverwirklichung auf dem Weg zur Singularisierung
Wir seien, so Reckwitz, nach den sozialen und kulturellen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in der „Spätmoderne“ angekommen, in einem Prozess, in dem sich die individuellen Orientierungen immer stärker auf den Anspruch der Selbstverwirklichung verlagern, während zuvor in der Nachkriegszeit bis in die siebziger Jahre hinein eine Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen und Normen der Standard war. Sich normal verhalten und nicht auffallen waren die Imperative dieser Epoche.
„Die Kultur des Selbst nach dem Epochenbruch der 1970er Jahre war mit der Hoffnung verknüpft, das Subjekt aus den Fesseln der repressiv erscheinenden industriellen Moderne und ihrer ‚kleinbürgerlichen‘ Alltagskultur zu befreien. Emanzipiert sollte das Subjekt sein, jedoch mystischer, sensibler und lebendiger, mehr am ‚guten Leben‘ und seinen eigenen Bedürfnissen als an der Anpassung an die alten Normen der Selbstdisziplin orientiert“ (ebd.: 204).
Der Prozess der Individualisierung sei in einer gesellschaftlichen Kultur der „Singularisierung“ (ebd.: 17) gemündet, in der es nicht mehr nur um das Streben nach Selbstverwirklichung durch eine freie und individuelle Lebensführung geht. Vielmehr gelte es in allen Lebensbereichen eine Einzigartigkeit der Lebensführung zu entwickeln, in der dauerhaft positive Emotionen und Glücksgefühle anzustreben sind. Das von Erich Fromm Mitte der siebziger Jahre geforderte „Sein“ als Lebenszustand („Haben oder Sein“; 1976), dass sich damals gegen das Besitzstreben der Wirtschaftswunderjahre wandte, hat sich zu dem Imperativ des „Sei einzigartig!“ weiterentwickelt.
Das neue Statusdenken - auch und gerade unter Eltern und Familien
Hinzu kommt, so Reckwitz, dass es nicht bei den inneren Prozessen der Selbstverwirklichung und der Glückssuche bleibt. Vielmehr muss nach außen dokumentiert werden, wie erfolgreich man auf dieser Schatzsuche ist. „Das spätmoderne Subjekt (…) richtet seinen Blick nach außen, in die Gesellschaft, und will (und soll) Leistung erbringen und sozialen Erfolg haben“ (Reckwitz: 216). Das normalbürgerliche Statusdenken der Wirtschaftswunderjahre („meine Wohnung, mein Auto, mein Pauschalurlaub“) war eigentlich durch die Orientierung an den humanistischen Werten abgelöst und kehrt jetzt im Wettbewerb um Einzigartigkeit zurück.
Übertragen auf den Kontext der Familien und der Bildung reicht es also nicht mehr, einfach nur Kinder zu haben, sondern die bewusste Förderung ihrer Einzigartigkeit steht immer mehr im Mittelpunkt des elterlichen Strebens nach Glück. Eltern richten ihre Energien auf Talententwicklung ihrer Kinder, auf schulische Leistungsfähigkeit, kulturelle Aktivitäten, sportliche Erfolge oder körperliche Attraktivität. Auch die Beziehung der Eltern auf der Paarebene und das gesamte Familienleben sollen einzigartig gestaltet und durch emotional tiefgreifende Erlebnisse erfüllt sein. Dies beginnt bei der Wohnsituation, betrifft alle Formen von Wohnungseinrichtung, Gerätschaften und Technikausstattung und reicht über besondere Urlaube bis hin zu regelmäßigen Events in der Freizeit. Es reicht nicht mehr, auf dem Bolzplatz Fußball zu spielen oder im Wald fantasievolle Abenteuer zu erleben, sondern es gilt, den Kindern mit regelmäßigen Besuchen in Freizeitparks besondere Erlebnisse zu bieten ohne zu realisieren, dass fantasievolle Abenteuer hier nur noch in vorfabrizierten Bahnen zu erleben sind. Diese Prozesse werden angefeuert durch die öffentliche Präsentation des Familienlebens und der eigenen Kinder in den sozialen Medien. Kinder und Familien beteiligen sich an Wettbewerben, in denen auch Kinder schon die beste Stimme Deutschlands werden können oder ihr Supertalent zeigen sollen. Am Ende der Jugendphase steht die ausführliche Präsentation der besten Abiturienten in der lokalen Zeitung. Reckwitz formuliert dies so:
"Performanz" als öffentlich ausgetragener Wettbewerb um perfekte Selbstverwirklichung
„Neben der Suche nach authentischen Momenten und dem Streben nach gesellschaftlichem Status, die im optimalen Fall zur erfolgreichen Selbstverwirklichung einhergehen, geht es ihm auch um Performanz: es will (und soll) sich auch vor anderen als glückliches, authentisches Subjekt in einem so anregenden und erlebnisreichen wie erfolgreichen Leben darstellen. Das ist das Muster der performativen Selbstverwirklichung (S. 217).
Man muss sich klarmachen, dass wir in diesen Prozessen sowohl Täter als auch Opfer sind. "Die spätmoderne Kultur der erfolgreichen und performativen Selbstverwirklichung ist eine äußerst ambitionierte Kultur des Selbst. Von diesem wird Höchstes erwartet, und zugleich wünscht es sich Höchstes von sich und für sich Höchstes" (S. 219). Einerseits sind stehen wir unter dem Druck gesellschaftlicher Ansprüche, die zwar je nach soziokultureller Ausprägung sehr unterschiedliche aussehen können, aber am Ende macht es keinen Unterschied, ob man wegen mangelnder Schulleistungen des eigenen Kindes unter Druck steht oder ob Eltern verzweifelt sind, weil sie ihren Kindern nicht genug Freizeitangebote oder das neuste Smartphone bieten können. Auf der anderen Seite erzeugen wir – bewusst oder unbewusst – den Druck auf die anderen Eltern, wenn wir auf einer Party oder beim Elternabend mitteilen, dass es gerade bei uns ganz gut läuft: „Unser Paul läuft jetzt schon mit 11 Monaten“. „Wir (!) haben endlich einmal eine Eins in Mathe geschrieben“.
"Die Selbstverwirklichungskultur als Generator negativer Emotionen"
Die vielfältigen und hochgesteckten Hoffnungen werden jedoch nur für einen kleineren Teil der Gesellschaft zur Realität. Reckwitz stellt das starke Anwachsen von Erschöpfungskrankheiten („Burn Out“, Depressionen usw.) und psychosomatischen Störungen als charakteristische Krankheitsbilder in den Zusammenhang dieser kulturellen Entwicklungen. „Die Paradoxie dieser um positive Emotionen zentrierten Lebensform besteht (…) darin, dass sie so unbeabsichtigt wie systematisch und in gesteigertem Maße negative Emotionen hervorbringt: Enttäuschung und Frustration, Überforderung und Neid, Wut, Angst, Verzweiflung und Sinnlosigkeit“ (Reckwitz 2019: 203f.).
Denn abgesehen von den materiellen Möglichkeiten, die vielen Eltern für die Teilnahme an den gesellschaftlich gebotenen Attraktionen fehlen, führt die allgemeine Norm, sich ständig hochgestimmt fühlen zu müssen, zu einem defizitären Erleben eines normalen Lebens, normaler Beziehungen und normaler alltäglicher Tätigkeiten. Aufräumen, Schulaufgaben, Mithelfen im Haushalt werden von Eltern immer weniger gefordert, weil sie ihren Kindern die damit verbundenen Unlustgefühle nicht zumuten wollen. Mit dem Satz „Es sind doch noch Kinder!“ werden Anforderungen auf eine unbestimmte Zukunft verschoben. Hinzu kommt das Problem, dass Familienmitglieder, um gleichzeitig guter Laune zu sein, sich einigen müssen, was sie gemeinsam tun wollen, um dann zusammen positiv gestimmt sein zu können. Je stärker aber die Konzepte der Selbstverwirklichung „singularisiert“ sind, desto weniger passen sie dann zusammen. So steigern sich die Anzahl und Intensität familiärer Konflikte, und im Erschöpfungszustand geht jeder seinen eigenen Weg. Statt der gewünschten positiven Emotionen steigern sich die negativen Gefühle. „Für den Umgang mit diesen negativen Emotionen fehlt in der spätmodernen Kultur jedoch der legitime Ort, und es mangelt an anerkannten Methoden, mit Ihnen in der Alltagskultur umzugehen“ (ebd.: 206). In der Folge entwickeln sich aggressive oder autoaggressive Verarbeitungsstrategien, die sich in entsprechenden psychosomatischen Störungen oder auch in aggressiven Verhaltensweisen wiederfinden lassen. Aus dieser Perspektive lassen sich zum Beispiel die Steigerungszahlen innerfamiliärer Konflikte bis hin zu hochstrittigen Trennungen von Eltern erklären (vgl. Bartscher 2021, S. 57ff.), aber auch das ungehemmte aggressive Agieren in den sozialen Medien, das z.B. durch extreme Cybermobbingfälle in den Alltag von Schulen hineinwirkt.
Reckwitz betont in seiner soziologischen Analyse, dass er gesellschaftliche Tendenzen beschreibt, die nicht für alle gleichermaßen gelten. Vielmehr lassen sich auch noch die zuvor geltenden Imperative der Nachkriegszeit in der Lebensführung vieler Familien erkennen, nach denen es galt, „normal“ zu sein, nicht öffentlich aufzufallen und Emotionen eher dem persönlichen und familiären intimen Bereich vorzubehalten. Das gilt auch für Lebenskonzepte von Familien in der Folge der 1968er Bewegung, die Selbstverwirklichung einem privaten Raum vorbehalten und sich dem öffentlich ausgetragenen Konkurrenzkamp um Einzigartigkeit entziehen wollen und können. Doch liefert Reckwitz mit seinen Analysen einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der weit verbreiteten und tiefgreifenden Erschöpfung vieler Eltern, die sich auf ihre Kooperationsfähigkeit in der Zusammenarbeit mit Schulen und auf ihre Gestaltungsfähigkeit des familiären Alltags als kulturelles Kapital sehr oft gravierend auswirkt.
Empfehlenswert ist auf diesem Hintergrund der 9. Familienbericht der Bundesregierung, der als eine der Kernthesen von einer Intensivierung von Elternschaft spricht und viele empirische Befunde dazu zusammenträgt. Allerdings wird die Lebenssituation von Familien nicht in der Tiefe erfasst, wie Reckwitz es mit seiner Beschreibung einer Paradoxie in dem Streben nach Glück und dem Erleben von Unglück auf den Punkt bringt.
Auf die Perspektiven, die Reckwitz selbst vorschlägt, werde ich in einem späteren Beitrag eingehen.
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Literatur