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Interkulturelle Kompetenz in der Arbeit mit zugewanderten Eltern

Matthias Bartscher • 23. Februar 2024

Interkulturalität - Diversität - Vielfalt: Fachliche Überlegungen

Diese Überlegungen habe ich in der krisenhaften Situation in der Zuwanderung nach 2015 begonnen. Sie bieten eine persönlich gefärbte Einschätzung zu Chancen und Herausforderungen der Arbeit mit Flüchtlingen und zugewanderten Menschen. Ich habe mich eigentlich nie explizit als Experte für „Interkulturalität“ verstanden. Doch als die Herausforderungen dann existierten und ich sowohl in der eigenen Beratungstätigkeit mit zugewanderten Menschen als auch bei Unterstützung der betreuenden und bildenden Systeme gefordert war und unterstützen wollte und musste, und als dann immer wieder auch Anfragen für fachliche Impulse zu Interkulturalität in der Zusammenarbeit mit Eltern an mich herangetragen wurde, wurde mir im Rückblick auf meine eigene berufliche Biografie klar, dass eine interkulturelle Ausrichtung immer ein elementarer Bestandteil meiner Werthaltung und meine Selbstverständnisses war. Meine ersten Berufsjahre im Jugendzentrum in Hamm-Pelkum waren geprägt durch die Herausforderungen in der Arbeit mit türkischen und marrokanischen Jugendlichen und ihre Eltern (wobei wir die größten Probleme mit deutschstämmigen gewaltbereiten und gewalttätigen Jugendliche hatten), die mich zunächst total an meine Grenzen brachten, aber auch wichtige und nachhaltige Lernerfahrungen anstließen. Sozialisiert in einer westfälischen Kleinstadt und der katholischen Jugendarbeit war ich mit einer naiven Offenheit auf die Jugendlichen zugegangen mit der Einladung ins Jugendzentrum: „Herzlich willkommen, ihr könnt ihr machen was ihr wollt!" Und dann machten sie was sie wollten. Wenige Jahre später beobachtete ich mich selbst im Eingang stehend: „Herzlich willkommen. Bevor ihr ins Jugendzentrum kommt, erkläre euch euch zunächst die Regeln, die herrschen, und was passiert, wenn ihr sie nicht einhaltet!“

Geborgen in einem hervorragenden Fachkräfteteam wurden unsere Erfahrungen aber dann immer konstruktiver und befriedigender. Für mich war es damals durchaus selbstverständlich, für ein besseres Verständnis der Herkunftskulturen gemeinsam mit deutschen und türkischen Jugendlichen eine dreiwöchige abenteuerliche Studienreise in die Türkei zu realisieren (siehe Bild). Mit diesen Erfahrungen konnte ich dann in den neunziger Jahren den Aufbau der Stadtteilarbeit im Hammer Norden verantwortlich mitgestalten. Dessen Sozialstruktur war wiederum extrem multikulturell, und die Arbeit ließ mich wiederum viele ausgesprochen positive Erfahrungen in der Begegnung mit zugewanderten Menschen machen. Auch die Rolle als Ansprechpartner der Stadt Hamm für die Gruppe der Hammer Sinti gehörte zu den Arbeitsbereichen, auf die ich heute mit großer Dankbarkeit wegen der vielen mitmenschlichen Begegnungen zurückbli-cke. Ich habe die Arbeit mit Menschen unterschiedlichster Herkunft immer als Bereicherung angesehen. Wobei ich betonen muss, dass die Arbeit durchaus immer wieder konfliktreich war und ich gelernt habe, eine sozial-romantische rosa Brille, die ich zunächst durchaus auf hatte, irgendwann abzusetzen und die Arbeit mit Realismus und Pragmatismus zu betreiben. Ich bitte die folgenden Thesen als Teil meines persönlichen Reflexionsprozesses und als Anregung zur Diskussion zu verstehen.

Diversität – Interkulturalität -Vielfalt


Gerade in den letzten Jahren wird erbittert um die Begriffe der Diversität und Vielfalt debattiert. Einerseits bedrohen völkische Proklamationen mit Begriffen wie „Remigration“ den gesellschaftlichen Frieden, und an anderen Stellen wird mit hoher Vehemenz für und gegen Gendersprache gestritten. Es mag eine Frage des Alters, aber auch der Erfahrung sein, dass ich die neorechten Akteure mit großer Furcht wahrnehme, den Genderstreit wiederum eher gelassen und mit Neugier verfolge, zumal ich meinen eigenen Weg zu gendern bereits mit meinem ersten Fachbuch 1998 („Partizipation von Kindern in der Kommunalpolitik“, Lambertus Verlag) gefunden habe und bis heute beibehalte: die konsequente Nutzung geschlechtsneutraler Begriffe und darüber hinaus den unsystematisch wechselnden Gebrauch von männlichen und weiblichen Sprachformen. Das mag manchmal irritieren, liest sich aber besser und zerstört das Textbild nicht. 

Über diesen erbitterten Streit gerät aber leicht in Vergessenheit, dass es historisch immer schon Vorläuferdiskurse über Gleichbehandlung und Gleichberechtigung gab:


  • Gleichberechtigung/Emanzipation der Frauen, heute Gleichberechtigung und Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierungen
  • Entstehung und Durchsetzung der Kinderrechte
  • UN Behindertenrechtskonvention - Inklusion in der Schule 
  • Interkulturalität – Anerkennung/Gleichberechtigung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
  • Soziale Bildungsgerechtigkeit/Aufstiegschancen für Menschen aus der Unterschicht

Die Begriffe Diversität, Interkulturalität und Vielfalt sind meines Erachtens in diesen Diskursen nicht mehr trennscharf zu unterscheiden, und ich gebrauche sie wechselnd und nicht immer trennscharf. Zumal es schwierig sein dürfte, sie trennscharf zu definieren.

Grundsätzlich geht es bei einer Diversitätsbewusstheit und einer Haltung der Achtsamkeit für Vielfalt darum, die Benachteiligung bzw. Diskriminierung von Menschen aufgrund struktureller Merkmale wahrzunehmen (Achtsamkeit) und Maßnahmen gegen Diskriminierung zu ergreifen.


Begriffsklärungen Diversität - Interkulturalität


Historisch gesehen waren in der Vergangenheit folgende Diskurse um Gleichberechtigung relevant:

  • Gleichberechtigung/Emanzipation der Frauen, heute Gleichberechtigung und Aner-kennung unterschiedlicher sexueller Orientierungen
  • Entstehung und Durchsetzung der Kinderrechte
  • UN Behindertenrechtskonvention - Inklusion in der Schule 
  • Interkulturalität – Anerkennung/Gleichberechtigung von Menschen mit Zuwande-rungsgeschichte
  • soziale Bildungsgerechtigkeit/Aufstiegschancen für Menschen aus der Unterschicht

Grundsätzlich geht es bei einer Diversitätsbewusstheit darum, die Benachteiligung bzw. Dis-kriminierung von Menschen aufgrund struktureller Merkmale wahrzunehmen (Achtsamkeit) und Maßnahmen gegen Diskriminierung zu ergreifen.


Universalität, interkulturelle Kompetenz und Werte-Klarheit
  1. Eine recht verstandene und praktizierte systemische, ressourcenorientierte professionelle Haltung von Fachkräften, die gekennzeichnet ist durch Neugierde und gleichzeitig Respekt vor der Lebenswirklichkeit aller Menschen, vor allem den Menschen gegenüber, mit denen man beruflich zu tun hat, hat nach meiner Auf-fassung „universalen“ Charakter. Wenn ich jeden Menschen als Individuum sehe und die Vorstellung aufgebe, dass ich, nur weil jemand im Nachbarhaus, in Ostbe-vern oder Ruhpolding geboren sei, weil er ein Mann oder eine Frau ist, weil er arm oder reich ist, weil er aus Bayern, der Türkei oder Amerika stammt, schon etwas über ihn oder sie weiß, dann macht es im beruflichen (und auch persönlichen) Kontakt kaum einen Unterschied, ob jemand zugewandert ist oder nicht. 
  2. Für mein eigenes interkulturelles Verständnis fand ich die Auseinandersetzung mit den Sinus-Milieustudien sehr hilfreich, weil sie den Blick schärfen für die soziale Lage und die Wertekontexte, in denen Menschen leben. Insbesondere fremde Wertvorstellungen als gleichberechtigt gelten lassen ist die Eintrittskarte in Kommunikation mit „Fremden“. Das bedeutet übrigens nicht, eigene Werte aufzugeben, sondern sie in die Kommunikation einzubringen und gegebenenfalls im institutionellen Kontext auch durchzusetzen. Hier gilt die Differenzierung von Empathie: „Verstehen – Verständnis haben – Einverstanden sein!“, und das kann in jedem Fall anders gelagert sein.
  3. Andererseits: Es gibt Grenzen des Verstehens und des Kontakts.
    1. Insbesondere kulturell e Tabus können Fallen in der Kommunikation darstel-len. Über Sitten und Gebräuche, Rollenbilder und Lebenskonzepte kann ich nur bis zu einem bestimmten Punkt offen kommunizieren. Die Vorstellung der kulturellen Offenheit ist wiederum selbst ein „soziokulturelles Milieu“, die bei Gesprächspartnern durchaus Befremden auslösen kann. Insofern gibt es ein profesionelles Wissen über andere Kulturen und die möglichen Fallen in der Kommunikation, und insofern sind Schulungen über Herkunftskulturen und kulturelle Kommunikationsfallen sicher sinnvoll, lösen aber das Problem al-lein nicht.
    2. Ich habe auch gelernt, dass es Grenzen einer gelingenden Kommunikation gibt. In einer Lehrerfortbildung in einer Berliner Brennpunktschule, die ich gemeinsam mit Weiterbildnerinnen aus der Berliner interkulturellen Szene machen durfte, brannte sich der Begriff der „Grundrechtsklarheit“ ein. Viel-leicht kann ich manchmal eine chauvinistische, sexistische oder rassistische Bemerkung oder Provokation überhören, vor allem wenn sie aus Hilflosigkeit und daraus resultierenden Ärger entstammt. Dann kann es gelingen, durch die Lösung der anstehenden Probleme Menschen zurück in die Schulgemein-schaft oder Kita Gemeinschaft zu holen, unabhängig von deren Vielfalt. Aber je bewusster diese Bemerkungen eingesetzt werden, desto mehr bin ich gefor-dert, durch klare Grenzziehung und institutionelle Reaktionen darauf zu rea-gieren und die Akzeptanz des deutschen Grundgesetzes einzufordern.
  4. Nur in der Ambivalenz zwischen diesen beiden Polen „Universalität“ und „interkultureller Kompetenz“ in Verbindung mit Werte-Klarheit kann ich gut professionell arbeiten: Einerseits offen und neugierig sein, andererseits wachsam, achtsam und klar.

Arbeit mit Übersetzerinnen und Übersetzern


  1. Arbeit mit zugewanderten Menschen bedeutet in den allermeisten Fällen Arbeit mit Übersetzenden. Im Unterschied zu einer professionellen Übersetzung z.B. vor Gericht oder in Verwaltungsangelegenheiten stellt die Übersetzung in pädagogischen Kontexten eine besondere Herausforderung dar:
  2. Gerade in pädagogischen Fragen glauben Übersetzende manchmal Bescheid zu wissen, sie sind oft selbst Eltern. Es besteht das Risiko, dass sie „ihr eigenes Ding“ machen, den Aussagen der Fachkräfte eine eigene Färbung geben, sie verstärken, sie abschwächen, dies oft unbewusst und in der besten Absicht zu helfen - oder sich mit einer der beiden Seiten zu identifizieren.
  3. Pädagogische Interventionen und beraterische Interventionen (bestimmte Fragen, Ausdruck von Wertschätzung und vieles mehr) sind komplexe Äuße-rungen, die ihre Wirkung im Prozess der Übersetzung leicht verlieren können. Gleichzeitig sind auch Äußerungen der Gesprächspartner keine reinen Faktenäußerungen (man denke an das „Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun).
  4. Übersetzung verdoppelt die Gesprächszeit. Gleichzeitig gibt sie aber auch in den „Pausen“, in denen übersetzt wird. Zeit, den Prozess zu beobachten, nachzudenken, ist auch eine Form der Entschleunigung.
  5. Übersetzende sind mit belastenden und komplexen Themen und Situationen konfrontiert, sie brauchen Vor- und Nachbereitung der Gespräche.
  6. All dies stellt kommunale Netzwerke vor die Herausforderung, Dolmetscher zu suchen, zu schulen und zu begleiten.


Konfrontation mit Flucht und Trauma


  1. Fachkräfte sind mit Fluchterfahrungen und möglichen Traumatisierungen konfrontiert. Sei es, dass dies offen von geflüchteten Familien geäußert wird, sei es, dass Verhaltensweisen der Kinder oder der Eltern entsprechende Hypothesen aufkommen lassen. Fachkräfte müssen sich intensiv mit der Frage beschäftigen, wie sie mit entsprechenden Situationen professionell umgehen können. Und sie sind auf professionelle (Fach)-Beratung angewiesen, wenn sie an ihre Grenzen stoßen.


Konfrontation mit abweichenden Wertvorstellungen und daraus resultierenden Kindeswohlgefährdungen


  1. Auch Fragen des Kinderschutzes stellen sich in der Arbeit mit zugewanderten Familien anders und neu. Wir können nicht unsere kulturellen und pädagogischen Wertvorstellungen unhinterfragt voraussetzen und erwarten, dass Eltern sich an „unseren Standards“ orientieren. Wir können aber auch nicht zusehen, wenn Kinder familiäre Gewalt erleiden oder vernachlässigt sind. So wie der Gesetzgeber 2001 mit dem Verbot der Gewalt in der Erziehung durch den Paragrafen 16 SGB VIII den Akteuren des Bildungssystems auferlegt hat, „auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können“, müsste es Teil einer gesellschaftlichen Informations- und Bildungsstrategie sein, zugewanderte Familien über eine moderne gewaltfreie Erziehung aufzuklären. Es gibt dazu Ansätze, jedoch bei weitem nicht ausreichende.
  2. Die Kommunikation im Kinderschutz steht vor hohen Anforderungen. Es gilt in einer Doppelrolle zu agieren: auf der einen Seite das staatliche Wächteramt wahrnehmen, Eltern über die Rechtslage aufklären, die Konsequenzen aufzuzeigen, wenn sie ihr Verhalten nicht ändern, und gegebenenfalls die nötigen Schritte Richtung Jugendamt und Familiengericht zu gehen. Gleichzeitig ist es der Auftrag des Kinderschutzes nicht, Fehlverhalten der Eltern zu bestrafen, sondern die Gefährdung abzuwenden. Und dazu ist häufig die Einleitung von Hilfen notwendig. Dies setzt die Fähigkeit voraus, Menschen zu etwas zu motivieren, dass sie am Anfang des Prozesses nicht für sinnvoll halten oder sogar ablehnen. Ich habe mich aus diesem Grund übrigens für eine Zusatzausbildung im Bereich der „motivierenden Gesprächsführung“ entschieden, bei mir dieses Konzept noch besser als meine systemische Ausbildung hilft, diese Gespräche gut zu führen. Aber dies ist kein Spezifikum der Arbeit mit Flüchtlingsfamilien. Der Satz „Eine Ohrfeige hat mir doch auch nicht geschadet“ wird von Eltern mit und ohne Zuwanderung und aus allen sozialen Schichten benutzt.


Anforderungen an professionelle Kommunikation



  1. Mit den genannten Punkten wird die Anforderungslatte an professionelle Kommunikation noch einmal höher gelegt: Sprachprobleme, traumatische oder große Belastungen der Familien, kulturell klaffende Wertvorstellungen, und dies in einem Umfeld, in dem andere Familien oftmals genau beobachten, was wir mit den Flüchtlingsfamilien tun und wie wir es tun. Hier ist das Konzept der Motivierenden Gesprächsführung eine hervorragende Hilfe im Kommunikationsprozess.
  2. Zugewanderte Familien stehen den Lebenspraktiken und der Vielfalt in der deutschen Gesellschaft und dem deutschen Bildungssystem oftmals völlig verständnislos gegenüber. Wie funktioniert es in der Kita oder Schule, was sollen Eltern tun, wenn es Probleme gibt, was ist der Job der Eltern im Bildungssystem? Solange wir dies den Familien nicht systematisch vermitteln neben Sprach- und Integrationskursen, werden viele Probleme nicht zu lösen sein.
  3. Aufgrund der Situation der Familien sind wir als Fachkräfte in hohem Maß mit ihrer Situation konfrontiert, die von Ungewißheit, Unsicherheit, Streß und Belastungen, inneren Konflikten, Trennungen, Armut, Arbeitslosigkeit u.v.m. gekennzeichnet sind. Dies löst auf Seiten der Fachkräfte ganz unterschiedliche Muster aus:
  4. Helfen – Kümmern
  5. Wegsehen – Ignorieren
  6. Mitfühlen
  7. Aktionismus
  8. In eigenen Mustern angestoßen werden
  9. Mitleiden, aufgesogen werden


Konsequenzen

  1. Professionell klar zu bleiben braucht Standing, Teamgeist, Supervision und Weiterbildung.
  2. Die Familien brauchen – soweit dies möglich ist – ein verlässliches Beziehungsangebot. Das ist wichtiger als „Ergebnisse“.
  3. Die professionellen Akteure benötigen wiederum Teams und Strukturen, die das mittragen und unterstützen.
  4. Es braucht ein professionelles Netz von Dolmetschern. Die Ausbildung von Laien stellt eine große Chance auch für die hier schon angekommenen Zuwanderer dar, aber sie müssen ausreichend gut ausgebildet und begleitet werden.
  5. Die Arbeit braucht Fachberatung.
  6. Wir benötigen dringend bildungsbezogene Bildungsangebote für die Eltern der Flüchtlingskinder: Wie das Schulsystem funktioniert, wie Eltern ihre Kinder im häuslichen Bereich unterstützen können, und vieles mehr.


von Matthias Bartscher 24. Oktober 2023
Es gibt seit vielen Jahren eine Tradition, Eltern im Bildungssystem eine Rolle und Aufgabe als Bildungsakteur zu geben. Lesepaten, Eltern als Mentorinnen in der Schule und im Übergang zum Beruf, Multiplikatorinnen und Moderatorinnen in Erziehungsfragen, Sprach-Mittlerrinnen: es gibt viele verschiedene Projekte. Diese Ansätze erweitern das Spektrum der Elternbeteiligung über das formale Engagement in Beteiligungsgremien hinaus und schaffen eine Qualität des Engagements, die über einzelne Aktionen der Hilfe und Unterstützung und des Kuchenbackens hinausgehen. Hierzu einige Thesen zur Diskussion im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung: Der wichtigste Grund für die Initiierung und Durchführung derartiger Projekte ist für mich, dass sie ein Beitrag zu einer gemeinwesenorientierten Gestaltung unserer Gesellschaft sind. In den letzten Jahren schreitet der Prozess der Individualisierung fort und „vielfältige“ Lebenswelten sind mehr mit gegenseitiger Abgrenzung beschäftigt als mit der Suche nach Gemeinsamkeiten. So kann das Engagement von Eltern für andere Eltern und ihre Kinder ein Beitrag zu einer solidarischen Gegenentwicklung sein. Die o.g. Arbeitsansätze sind von klassischem ehrenamtlichen Engagement zu unterscheiden. Denn insoweit das Engagement in einer Bildungseinrichtung stattfindet, in der das eigene Kind betreut und gebildet wird, profitiert auch dieses durch das Engagement der Eltern, weil die Bildungseinrichtung ihre Arbeit qualitativ besser leisten kann. Der Grundansatz ist mehr vom Streben nach Synergien zwischen dem eigenen Gewinn und dem Nutzen für andere als von altruistischem Engagement für andere bestimmt. Ich sehe derartige Ansätze im Kontext einer immer größeren Ausweitung von Bildungs-und Betreuungsangeboten. Während Betreuung, Erziehung und Bildung historisch gesehen Leistungen des familiären Systems waren, wurden Teile des Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsauftrages der Gesellschaft durch die Bildungsinsti-tutionen übernommen, weil nur so der gesellschaftliche Bedarf an qualifizierten Ar-beitskräften gedeckt werden konnte. So findet ein kontinuierlicher Ausbau der Betreuungszeiten und des Betreuungsumfanges statt, in Verbindung mit einem kontinu-ierlichen Ausbau an pädagogischem und nicht-pädagogischem Personal. Die von mir angesprochenen Arbeitsbereiche und Funktionen von Eltern in den Bildungseinrich-tungen schaffen ein Gegengewicht und zeigen, dass Eltern auch in formalen Bildungsinstitutionen Bildungsleistungen erbringen können. Kritisch wird immer wieder eingewandt, dass ehrenamtlich tätige Eltern Lücken schließen sollen, die durch den Fachkräftemangel entstehen. Dieser Einwand ist berechtigt. Es kann nicht darum gehen, dass Eltern durch ihr Engagement Fehlentwicklungen im Bildungssystem kompensieren sollen. Insofern ist immer genau hinzusehen, welche Aufgaben und Funktionen mit welchen Zielsetzungen Eltern überneh-men können und sollen. Ein anderer Einwand richtet sich auf die Frage, ob die Eltern überhaupt für derartige Tätigkeiten qualifiziert sind. Richtig ist, dass zentrale Tätigkeiten und Aufgaben pädagogisch qualifiziertem Personal vorbehalten sein sollte. Aber die Leistungen von El-tern, die sie im Alltag von Bildungseinrichtungen einbringen können, stellen eine ei-gene Qualität dar und können das Qualitätsniveau einer Bildungseinrichtung heben. Je mehr Bildungseinrichtungen zu Lebensorten werden, in denen Kinder wichtige Zeiten ihres Lebens verbringen, desto wichtiger ist die Anwesenheit von Eltern im Alltag dieser Einrichtungen. Diese Leistungen von Eltern haben eine eigene Qualität. Eltern müssen für diese Tätigkeiten ausgewählt, qualifiziert und begleitet werden. Dies wiederum erfordert einen hohen Personalaufwand, der gesondert bereitgestellt werden muss und nicht von den vorhandenen Fachkräften in den Bildungseinrichtungen geleistet werden kann. Die meisten der hier angesprochenen Projekte sind im Integrationsbereich angesie-delt und richten sich an Migrantinnen und Migranten zur Unterstützung anderer Mig-rantinnen und Migranten. Es spricht jedoch viel dafür, diese Projekte unabhängig von dem Fokus Migration weiterzuentwickeln und stärker auf unterschiedliche Lebenswelten von Eltern auszurichten. Es gibt auch hierfür schon verschiedene Beispiele. Meine Erfahrungen mit allen Projekten, die wir in dieser Richtung in Hamm initiiert und durchgeführt haben („Aufsuchende Elternhilfe“, „Mein Kind wird fit“, Sprachmittlerinnen, Eltern-Talk u.v.m.), waren insgesamt überaus positiv. Mein Anliegen ist es, die in unserer Stadt vorhandenen Ansätze des Engagements von Eltern in Bildungseinrichtungen und sozi-alen Institutionen zu reflektieren, Qualitätsstandards zu definieren und die Nutzung dieses Potenzials zu intensivieren. Dafür müssen Rahmenbedingungen finanzieller und strukturel-ler Art geschaffen werden, ein Prozess, der sicher nicht von heute auf morgen gelingen kann. Rückmeldungen gern per Mail, die ich als Kommentar hier gerne veröffentliche! "Der Ansatz und die Ideen, die die Thesen verfolgen sind meines Erachtens der Weg in die richtige Richtung. Gleichwohl glaube ich, dass auf diesem Weg "dicke Bretter" zu bohren sind, da die Bildungseinrichtungen zum Teil nicht einmal mit den sogenannten "Profis" kooperieren und die Türen öffnen. Eltern einzuladen, in die Einrichtungen zu holen und aktiv zu beteiligen ist ein herausfordernder, ambitionierter Schritt und mit Sicherheit mit einigen Unwägbarkeiten verbunden. (...aber, einfach kann ja jeder..) Sehr gerne würde ich den Prozess im Rahmen meiner Möglichkeiten mitbegleiten und innerhalb Outlaws/Elternschule für die Ideen sensibilisieren." Thorsten Lanowski, Outlaw gGmbH Hamm Die Inhalte deines Entwurfes finde ich sehr treffend beschrieben. Wir beteiligen unsere Eltern sehr viel und haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Es steckt so viel Potenzial in ihnen. Die Arbeit der Multiplikatorin aus dem Projekt " Mein Kind wird fit - Ich mach mit!", die seit vielen Jahren bei uns tätig ist, ist in unserer Einrichtung gar nicht mehr wegzudenken. Mir wir Angst und Bange ,wenn ich die Einsparungen unserer Regierung sehe, die zum Beispiel die Migrationsdienste betreffen. Darüber laufen auch ihre Angebote und ein Angebot für die angehenden Schulkinder . Ich fand die Aussage von Fr. Kraft sehr bedeutsam ,die einmal sagte: „Besser investieren als reparieren!“ Eltern dürfen Fachkräfte nicht ersetzen ,sondern sollen als eine Bereicherung für unsere gemeinsame Aufgabe Bildung, Begleitung und Entwicklung unserer Kinder gesehen werden. Ihr Verantwortungsgefühl steigt ,wenn sie Verantwortung erhalten. Unsere Vorleseeltern übernehmen mit Begeisterung diese Aufgabe und sind hinein gewachsen. Wir sind immer offen für neue Ideen und bereit diese zu begleiten. Sabine Langer, Einrichtungsleitung AWO Kita Lange Straße Hamm
von Matthias Bartscher 25. November 2022
Foto: Screenshot einer Google-Bildersuche zu dem Begriff "Familie" Kaum ein Buch hat mich in den letzten Jahren so angeregt wie „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ (Berlin 2019). Der Berliner (Kultur-)Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt v.a. im vierten Kapitel des Buches ( „Erschöpfte Selbstverwirklichung: Das spätmoderne Individuum und die Paradoxien seiner Emotionskultur“) eine Perspektive auf gesellschaftliche Mechanismen und Trends, denen alle Menschen ausgesetzt sind, und unter denen viele in Zustände emotionalen Drucks, innerer Verunsicherung und Zerrissenheit, großer Angst-, Schuld- und Schamgefühle geraten. Als ich das Buch (ein Geschenk von Botho Priebe, ich danke dir!) las, fühlte ich mich in meinem Lebensgefühl wahrgenommen und verstanden, und finde gleichzeitig eine fachliche Legitimation und Fundierung meiner Arbeit, die intuitiv schon zuvor in die gleiche Richtung angelegt war. Der Hauptfokus meiner Arbeit liegt ja auf der Zusammenarbeit zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern im gesamten Bildungssystem und in der Kinder- und Jugendhilfe, im Weiteren auch auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Analysen von Reckwitz haben mir geholfen, den Druck besser zu verstehen, unter dem moderne Elternschaft für einen erheblichen Teil der Familien steht. Dieses Thema hatte ich schon mit der ersten familienbezogenen Sinus-Milieustudie („Eltern unter Druck“) 10 Jahre zuvor in mein konzeptionelles Denken integriert (vgl. Bartscher u.a. 2010), Denn die emotionalen Belastungen der Eltern wirken sich auf die Kooperation der Erziehungs- und Bildungspartner und noch mehr auf die Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler sehr negativ aus. Von der Moderne zur Spätmoderne: Kultur der Selbstverwirklichung auf dem Weg zur Singularisierung Wir seien, so Reckwitz, nach den sozialen und kulturellen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in der „Spätmoderne“ angekommen, in einem Prozess, in dem sich die individuellen Orientierungen immer stärker auf den Anspruch der Selbstverwirklichung verlagern, während zuvor in der Nachkriegszeit bis in die siebziger Jahre hinein eine Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen und Normen der Standard war. Sich normal verhalten und nicht auffallen waren die Imperative dieser Epoche. „Die Kultur des Selbst nach dem Epochenbruch der 1970er Jahre war mit der Hoffnung verknüpft, das Subjekt aus den Fesseln der repressiv erscheinenden industriellen Moderne und ihrer ‚kleinbürgerlichen‘ Alltagskultur zu befreien. Emanzipiert sollte das Subjekt sein, jedoch mystischer, sensibler und lebendiger, mehr am ‚guten Leben‘ und seinen eigenen Bedürfnissen als an der Anpassung an die alten Normen der Selbstdisziplin orientiert“ (ebd.: 204). Der Prozess der Individualisierung sei in einer gesellschaftlichen Kultur der „Singularisierung“ (ebd.: 17) gemündet, in der es nicht mehr nur um das Streben nach Selbstverwirklichung durch eine freie und individuelle Lebensführung geht. Vielmehr gelte es in allen Lebensbereichen eine Einzigartigkeit der Lebensführung zu entwickeln, in der dauerhaft positive Emotionen und Glücksgefühle anzustreben sind. Das von Erich Fromm Mitte der siebziger Jahre geforderte „Sein“ als Lebenszustand („Haben oder Sein“; 1976), dass sich damals gegen das Besitzstreben der Wirtschaftswunderjahre wandte, hat sich zu dem Imperativ des „Sei einzigartig!“ weiterentwickelt. Das neue Statusdenken - auch und gerade unter Eltern und Familien Hinzu kommt, so Reckwitz, dass es nicht bei den inneren Prozessen der Selbstverwirklichung und der Glückssuche bleibt. Vielmehr muss nach außen dokumentiert werden, wie erfolgreich man auf dieser Schatzsuche ist. „Das spätmoderne Subjekt (…) richtet seinen Blick nach außen, in die Gesellschaft, und will (und soll) Leistung erbringen und sozialen Erfolg haben“ (Reckwitz: 216). Das normalbürgerliche Statusdenken der Wirtschaftswunderjahre („meine Wohnung, mein Auto, mein Pauschalurlaub“) war eigentlich durch die Orientierung an den humanistischen Werten abgelöst und kehrt jetzt im Wettbewerb um Einzigartigkeit zurück. Übertragen auf den Kontext der Familien und der Bildung reicht es also nicht mehr, einfach nur Kinder zu haben, sondern die bewusste Förderung ihrer Einzigartigkeit steht immer mehr im Mittelpunkt des elterlichen Strebens nach Glück. Eltern richten ihre Energien auf Talententwicklung ihrer Kinder, auf schulische Leistungsfähigkeit, kulturelle Aktivitäten, sportliche Erfolge oder körperliche Attraktivität. Auch die Beziehung der Eltern auf der Paarebene und das gesamte Familienleben sollen einzigartig gestaltet und durch emotional tiefgreifende Erlebnisse erfüllt sein. Dies beginnt bei der Wohnsituation, betrifft alle Formen von Wohnungseinrichtung, Gerätschaften und Technikausstattung und reicht über besondere Urlaube bis hin zu regelmäßigen Events in der Freizeit. Es reicht nicht mehr, auf dem Bolzplatz Fußball zu spielen oder im Wald fantasievolle Abenteuer zu erleben, sondern es gilt, den Kindern mit regelmäßigen Besuchen in Freizeitparks besondere Erlebnisse zu bieten ohne zu realisieren, dass fantasievolle Abenteuer hier nur noch in vorfabrizierten Bahnen zu erleben sind. Diese Prozesse werden angefeuert durch die öffentliche Präsentation des Familienlebens und der eigenen Kinder in den sozialen Medien. Kinder und Familien beteiligen sich an Wettbewerben, in denen auch Kinder schon die beste Stimme Deutschlands werden können oder ihr Supertalent zeigen sollen. Am Ende der Jugendphase steht die ausführliche Präsentation der besten Abiturienten in der lokalen Zeitung. Reckwitz formuliert dies so: "Performanz" als öffentlich ausgetragener Wettbewerb um perfekte Selbstverwirklichung „Neben der Suche nach authentischen Momenten und dem Streben nach gesellschaftlichem Status, die im optimalen Fall zur erfolgreichen Selbstverwirklichung einhergehen, geht es ihm auch um Performanz: es will (und soll) sich auch vor anderen als glückliches, authentisches Subjekt in einem so anregenden und erlebnisreichen wie erfolgreichen Leben darstellen. Das ist das Muster der performativen Selbstverwirklichung (S. 217). Man muss sich klarmachen, dass wir in diesen Prozessen sowohl Täter als auch Opfer sind. " Die spätmoderne Kultur der erfolgreichen und performativen Selbstverwirklichung ist eine äußerst ambitionierte Kultur des Selbst. Von diesem wird Höchstes erwartet, und zugleich wünscht es sich Höchstes von sich und für sich Höchstes" (S. 219). Einerseits sind stehen wir unter dem Druck gesellschaftlicher Ansprüche, die zwar je nach soziokultureller Ausprägung sehr unterschiedliche aussehen können, aber am Ende macht es keinen Unterschied, ob man wegen mangelnder Schulleistungen des eigenen Kindes unter Druck steht oder ob Eltern verzweifelt sind, weil sie ihren Kindern nicht genug Freizeitangebote oder das neuste Smartphone bieten können. Auf der anderen Seite erzeugen wir – bewusst oder unbewusst – den Druck auf die anderen Eltern, wenn wir auf einer Party oder beim Elternabend mitteilen, dass es gerade bei uns ganz gut läuft: „Unser Paul läuft jetzt schon mit 11 Monaten“. „Wir (!) haben endlich einmal eine Eins in Mathe geschrieben“. "Die Selbstverwirklichungskultur als Generator negativer Emotionen" Die vielfältigen und hochgesteckten Hoffnungen werden jedoch nur für einen kleineren Teil der Gesellschaft zur Realität. Reckwitz stellt das starke Anwachsen von Erschöpfungskrankheiten („Burn Out“, Depressionen usw.) und psychosomatischen Störungen als charakteristische Krankheitsbilder in den Zusammenhang dieser kulturellen Entwicklungen. „ Die Paradoxie dieser um positive Emotionen zentrierten Lebensform besteht (…) darin, dass sie so unbeabsichtigt wie systematisch und in gesteigertem Maße negative Emotionen hervorbringt: Enttäuschung und Frustration, Überforderung und Neid, Wut, Angst, Verzweiflung und Sinnlosigkeit“ (Reckwitz 2019: 203f.). Denn abgesehen von den materiellen Möglichkeiten, die vielen Eltern für die Teilnahme an den gesellschaftlich gebotenen Attraktionen fehlen, führt die allgemeine Norm, sich ständig hochgestimmt fühlen zu müssen, zu einem defizitären Erleben eines normalen Lebens, normaler Beziehungen und normaler alltäglicher Tätigkeiten. Aufräumen, Schulaufgaben, Mithelfen im Haushalt werden von Eltern immer weniger gefordert, weil sie ihren Kindern die damit verbundenen Unlustgefühle nicht zumuten wollen. Mit dem Satz „Es sind doch noch Kinder!“ werden Anforderungen auf eine unbestimmte Zukunft verschoben. Hinzu kommt das Problem, dass Familienmitglieder, um gleichzeitig guter Laune zu sein, sich einigen müssen, was sie gemeinsam tun wollen, um dann zusammen positiv gestimmt sein zu können. Je stärker aber die Konzepte der Selbstverwirklichung „singularisiert“ sind, desto weniger passen sie dann zusammen. So steigern sich die Anzahl und Intensität familiärer Konflikte, und im Erschöpfungszustand geht jeder seinen eigenen Weg. Statt der gewünschten positiven Emotionen steigern sich die negativen Gefühle. „Für den Umgang mit diesen negativen Emotionen fehlt in der spätmodernen Kultur jedoch der legitime Ort, und es mangelt an anerkannten Methoden, mit Ihnen in der Alltagskultur umzugehen“ (ebd.: 206). In der Folge entwickeln sich aggressive oder autoaggressive Verarbeitungsstrategien, die sich in entsprechenden psychosomatischen Störungen oder auch in aggressiven Verhaltensweisen wiederfinden lassen. Aus dieser Perspektive lassen sich zum Beispiel die Steigerungszahlen innerfamiliärer Konflikte bis hin zu hochstrittigen Trennungen von Eltern erklären (vgl. Bartscher 2021, S. 57ff.), aber auch das ungehemmte aggressive Agieren in den sozialen Medien, das z.B. durch extreme Cybermobbingfälle in den Alltag von Schulen hineinwirkt. Reckwitz betont in seiner soziologischen Analyse, dass er gesellschaftliche Tendenzen beschreibt, die nicht für alle gleichermaßen gelten. Vielmehr lassen sich auch noch die zuvor geltenden Imperative der Nachkriegszeit in der Lebensführung vieler Familien erkennen, nach denen es galt, „normal“ zu sein, nicht öffentlich aufzufallen und Emotionen eher dem persönlichen und familiären intimen Bereich vorzubehalten. Das gilt auch für Lebenskonzepte von Familien in der Folge der 1968er Bewegung, die Selbstverwirklichung einem privaten Raum vorbehalten und sich dem öffentlich ausgetragenen Konkurrenzkamp um Einzigartigkeit entziehen wollen und können. Doch liefert Reckwitz mit seinen Analysen einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der weit verbreiteten und tiefgreifenden Erschöpfung vieler Eltern, die sich auf ihre Kooperationsfähigkeit in der Zusammenarbeit mit Schulen und auf ihre Gestaltungsfähigkeit des familiären Alltags als kulturelles Kapital sehr oft gravierend auswirkt. Empfehlenswert ist auf diesem Hintergrund der 9. Familienbericht der Bundesregierung, der als eine der Kernthesen von einer Intensivierung von Elternschaft spricht und viele empirische Befunde dazu zusammenträgt. Allerdings wird die Lebenssituation von Familien nicht in der Tiefe erfasst, wie Reckwitz es mit seiner Beschreibung einer Paradoxie in dem Streben nach Glück und dem Erleben von Unglück auf den Punkt bringt. Auf die Perspektiven, die Reckwitz selbst vorschlägt, werde ich in einem späteren Beitrag eingehen. Kommentare (werden hier ergänzt)... Zum Weiterlesen In der taz: Soziologe Hartmut Rosa im Gespräch: „Die Umwege fehlen jetzt“. Corona hat das Hamsterrad des Lebens gebremst, trotzdem sind wir rastloser. Soziologe Hartmut Rosa sagt, warum die Krise die Jungen besonders trifft. Deutschlandfunk: „Rasender Stillstand“ - Plötzlich ausgebremst - Die Thesen des Philosophen Paul Virilio Literatur Bartscher, M. (2021): Bildungs- und Erziehungspartnerschaften in Schulen. Zusammenarbeit mit Eltern lebensweltorientiert planen und gestalten (Band 1), Hannover Bartscher, Matthias; Boßhammer, Herbert; Kreter, Gabriela; Schröder, Birgit (2010): Bildungs- und Erziehungspartnerschaft. Rahmenkonzeption für die konstruktive Zusammenarbeit mit Eltern in Ganztagsschulen; Der GanzTag in NRW, Beiträge zur Qualitätsentwicklung 2010, Heft 18. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2021((Hg.): Neunter Familienbericht. Eltern sein in Deutschland – Ansprüche, Anforderungen und Angebote bei wachsender Vielfalt, Berlin Fromm, Erich (1976): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart Merkle, Tanja; Wippermann, Carsten (Hg.: Konrad-Adenauer-Stiftung)(2008): Eltern unter Druck. Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten, Berlin Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Frankfurt
von Matthias Bartscher 22. Oktober 2022
Der Beginn: nebenberufliche Tätigkeit Die freiberufliche Tätigkeit hatte ich über viele Jahre aufgebaut. Zunächst einige Vorträge neben der Arbeit, vielleicht auch mal ein Seminartag, alles neben einer vollen Stelle. Die freiberufliche Arbeit war zwar auch stressig, fast immer jedoch ausgesprochen befriedigend, und Auftraggeber, die sich für neue Aufträge meldeten, waren das beste Feedback, dass man sich vorstellen kann. Dann hatte ich 2013 auf eine dreiviertel Stelle reduziert, und 2017 dann auf eine halbe Stelle. Damals erschien mir das eine gute Perspektive, bis zur Rente so mit zwei Standbeinen zu arbeiten und dann auch im Rentenstatus weiter tätig zu sein. Denn finanziell war es vorteilhaft. Solange der freiberufliche Anteil der Arbeit die angestellte Tätigkeit nicht überwog (zeitlich und finanziell), war die Krankenversicherung über die angestellte Tätigkeit abgesichert. Damals war mir nicht klar, dass man aber trotzdem Rentenversicherungsbeiträge zahlen muss. Der Übergang in die volle Selbständigkeit Aus verschiedenen Gründen habe ich mich dann Ende 2019 entschlossen, meine Anstellung bei der Stadt Hamm zu kündigen und komplett freiberuflich zu arbeiten. Der vorzeitige Übergang in die Rente schien mir als Option eine ausreichende Sicherheit zu sein (offizieller Renteneintritt Mai 2024), wenn es gar nicht klappen sollte. Der Übergang hat dann auch im Prinzip super geklappt, Ich hatte viele Auftraggeber, und das Potential schien ausreichend zu sein. Allerdings war m ein erster komplett freiberuflicher Arbeitstag am 1.10.2020 identisch mit dem Beginn der zweiten Coronawelle. Ich konnte sehr schnell auf Online-Arbeit umstellen, weil ich Spaß an der technischen Seite habe und weil ich es inhaltlich als anspruchsvolle Herausforderung betrachtete, die Potenziale des neuen Mediums durch die Entwicklung einer geeigneten Didaktik zu nutzen, und dies im Austausch mit einigen anderen Trainerinnen und Trainern, die das mit der gleichen Haltung und auch der gleichen Begeisterung machten. Insofern schien zunächst alles gut zu sein. Zu dieser Zeit nahm ich einen Tagessatz von 800 €, und das hörte sich nach viel Geld an. Kein schlechter Tagessatz - also alles gut? In der Umstellung stellte sich dann jedoch nach und nach heraus, dass viele Hürden zu bewältigen waren und ein Kostenapparat entstand, der bedient werden wollte, wobei ich durchweg allein tätig war, also kein Personal anstellte. Der erste Schritt war die Umsatzsteuerpflicht, die Schwelle lag damals bei ca. 17.000 €. Wenn man das erste Mal diese Umsatzschwelle überschreitet, wird man im nächsten Jahr umsatzsteuerpflichtig. Meine Befürchtung, dass es viele Auftraggeber abschreckt, nochmal 20% draufzulegen, hat sich allerdings nicht bewahrheitet. Ich habe den Eindruck, dass die Umsatzsteuer bei den Auftragsverhandlungen keine besondere Rolle spielt. Und es gibt einige besondere Auftraggeber, die von der Umsatzsteuer befreit sind. Schwierig ist es immer, wenn man Aufträge im Ausland übernimmt, weil das steuerrechtlich kompliziert ist. Und ich hatte und habe einige Auftraggeber in Österreich und in der Schweiz. Wenn dann nach der Umstellung das System erstmals steht, entsteht der Vorteil des Vorsteuerabzugs. Das bedeutet, dass sich alle Umsatzsteuern, die ich für meine eigenen Einkäufe zahle, von der zu zahlenden Umsatzsteuer abziehen kann. Das ist im Prinzip ein kleiner Bonus auf das Honorar. Sehr hilfreich war die Umstellung auf ein Onlinebuchführungsprogramm (Lexoffice), weil das Programm sehr viele Dinge vereinfacht. Zu den Kosten, die man zwar auch früher schon hatte, aber nicht wirklich wahrgenommen hat, gehören die Rentenbeiträge. Auch als Freiberufler hat man eine Rentenversicherungspflicht (ist auch gut so). Im Unterschied zu der Angestelltentätigkeit zahlt man die vollen 18,6 %, es gibt keine Arbeitgeberbeiträge. D. h., dass die Kosten sich verdoppeln. Das gleiche gilt für die Krankenversicherungspflicht. Mein Beitragssatz liegt bei 15,9 % und zusätzlich 3,05 % Pflegeversicherung. Bei diesem Beitragssatz erhält man nach dem 28. Krankheitstag Krankengeld. Auch hier gibt es keine Arbeitgeberzuschüsse mehr, man muss alles selber tragen. Das Risiko von Einkommensausfällen durch Erkrankung ist kaum abzusichern. Entsprechende Versicherungen kosten einige 100 € im Monat. Mein Gedanke war, möglichst schnell ausreichend Rücklagen aufzubauen, um sich auf diese Art und Weise abzusichern. Das ist aber in den letzten beiden Jahren durch die verschiedenen Coronawellen immer wieder zunichte gemacht worden. Kaum waren ein paar Rücklagen entstanden, kam die nächste Coronakrise mit entsprechenden Einnahmeausfällen. Das nächste Thema sind die Lohnsteuerzahlungen. Hier erhält man auf der Basis des letzten Jahres einen Vorauszahlungsbescheid. Ich habe diese Einkommensteuervorauszahlungen monatlich geleistet, sie gehen direkt vom Geschäftskonto ab. Ich rechne mit einer durchschnittlichen Belastung von 20 %. Wenn man jetzt diese verschiedenen Belastungen zusammen rechnet (18,6 % +15,9 % +3,05 % +20 %), kommt man auf 57,45 % Abzüge. Diese Abzüge gehen von der Summe ab, die in der sogenannten Einnahme-.Überschussrechnung (EÜR) in der Steuererklärung ermittelt wird. Das bedeutet im Prinzip, das vom Honorar noch Kosten abgezogen werden können, die man nicht in Rechnung stellen kann. Dazu gehören folgende Kosten: Telefon/Internet/Smartphone Buchführungskosten, Steuerberatungskosten Kosten für Fortbildung und Supervision Kosten für Marketing (bei mir vor allem für die Homepage) Büromaterial und Materialkosten, die nicht in Rechnung gestellt werden können Anschaffungen (PC, Drucker, Fotoapparat, Ausstattung für online Arbeit usw.) In der Praxis bedeutet das, dass ich monatlich ca. 3.000 - 3.500 € Kosten habe, die ich erwirtschaften muss, ohne schon etwas verdient zu haben. Diese Ausgaben laufen durch, auch in den Ferienzeiten, wenn keine Einnahmen kommen. So komme ich – wenn ich voll arbeite – zu einem Gewinn, der den Brutto-Personalkosten eines Arbeitgebers entspricht (Bruttogehalt plus Arbeitgeberanteile plus Zulagen), und liege mit meinem aktuellen Einkommen deutlich unter den Kosten für Erzieherinnen/Erzieher zum Beispiel in der Kita oder von Verwaltungskräften im mittleren Dienst. Anders gesagt: ich verdiene im Moment bei voller Arbeit ungefähr die Hälfte von dem, was ich vorher als leitender Angestellter im Jugendamt verdient habe (EG 14). Als mir dies zum ersten Mal klar wurde, war das eine frustrierende Erkenntnis. Das Ziel, ungefähr gleich viel zu verdienen, ist völlig unrealistisch. Entsprechende Tagessätze von 1.500 - 2.000 € sind in der freien Wirtschaft nicht unüblich, in meinem Tätigkeitssegment aber nicht realisierbar. Wieviele Tage im Jahr im Einsatz? Ein weiterer zentraler Faktor der Einkommenshöhe ist die Anzahl der Tage, an denen man Einnahmen erzielen kann. Da mein Hauptgeschäft Vorträge und Seminare sind, musste ich mir überlegen, wie viele Tage in der Woche ich Aufträge annehmen kann, ohne in die Überlastung zu kommen. Und ich hatte immer das Gefühl, dass ich zu viel arbeite. Wenn man fast jeden Abend und auch am Wochenende noch am Schreibtisch sitzt, um die Arbeit vorzubereiten und nachzubereiten, Buchführung zu machen, Homepage zu managen und vielleicht auch mal etwas Fachliches zu schreiben, ist das eindeutig zu viel. Ich hatte mir relativ schnell als Orientierungswert das Ziel gesetzt, maximal 2,5 Tage pro Woche zu verplanen. Dann würde man bei ca. 220 Arbeitstagen pro Jahr an 110 Tagen Geld verdienen. Dabei gibt es in der Praxis verschiedene Probleme: Da ich eine Reihe von Auftraggebern in ganz Deutschland habe, kommen die Fahrzeiten dazu. Auch wenn man im Zug ganz gut arbeiten kann, sind Reisen anstrengend. Es gibt Zeiten, in denen es keine Aufträge gibt (alle Ferienzeiten plus die Wochen vor Beginn und nach Ende der Ferien), und Wochen, in denen alle Auftraggeber alle Veranstaltungen machen wollen: ab Mitte Januar bis vor den Osterferien, zwischen Osterferien und Sommerferien, zwischen Sommerferien und Herbstferien und nach den Herbstferien bis Anfang Dezember. In diesen Wochen verdichtet sich die Arbeit unglaublich und ist hochbelastend, und ich bin insbesondere im November fast jedes Jahr auch krank geworden. Diese Ausfälle müssen finanziell verkraftet werden, und gleichzeitig führen Nachholveranstaltungen zu einer Verdichtung in den jeweiligen Wochen. Selbstausbeutung und Burnout oder weniger arbeiten und weniger Geld? Es gibt viele Freiberufler und Freiberuflerinnen, die deutlich geringere Tagessätze berechnen als ich aktuell erwarte. Mir ist immer klarer geworden, dass das nur funktioniert, wenn man das nebenberuflich macht neben einer gut bezahlten Stelle (viele machen das mit einem Teilzeit Modell und haben mit einer halben Stelle die Sozialversicherung finanziert) oder durch eine Erhöhung der verplanen Zeit in die Selbstausbeutung gehen. Mir hat mal ein mir bekannter Trainer erzählt, dass er in der Gründungszeit seines Unternehmens 180 Trainertage gemacht hat. Das ist für mich der helle Wahnsinn. Wenn man drei oder sogar vier Seminartage in der Woche macht, ist weder die Belastung durchzuhalten noch wird man den Menschen gerecht, mit denen man arbeitet. War die Entscheidung für die Selbständigkeit richtig? Trotz allem habe ich meine Entscheidung für die Selbstständigkeit nicht bereut, weil mir die Freiheit und Selbstständigkeit sehr viel bedeutet. Ich brauche viele unproduktive und ärgerliche Dinge nicht mehr zu tun, die früher zu meine Arbeit gehörten. Die allermeisten Aufträge, die ich übernehme, laufen zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Dies zeigt sich vor allem durch persönliche Rückmeldungen, aber auch langfristige Kooperationen. So zu arbeiten kann ich mir allerdings nur leisten, weil ich familiär recht gut abgesichert bin. Meine persönliche Lösung in dieser Lage ist auch der Rentenantrag gewesen. Seit dem 1.7.2022 bin ich vorzeitig im Ruhestand (mit den entsprechenden Abzügen bei der Rentenzahlung) und habe damit eine Basisfinanzierung, die sich ausgesprochen stressmindernd auswirkt. Denn immer in den Ferienzeiten, in denen man eigentlich Urlaub machen will, fehlen die Einnahmen und das macht Stress.
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